Vom Hochhaus zum Bauernhaus

Vertical Farming: Das Hochhaus als Gemüsegarten

02. Dez. 2015 von

Mit vertical farming soll die Welt mit Nahrungsmitteln versorgt werden. Megacities platzen aus allen Nähten, und bis 2050 werden Schätzungen zufolge zwei Drittel aller Menschen in Städten leben. Ein Trend, der nachwirkt?

Auf der Website des Tagesanzeiger ist ein Video gepostet, das zeigt, was es mit vertical farming auf sich hat. Singapur ist ein gutes Beispiel, um den New-Age Begriff zu erklären: Mehr als fünf Millionen Menschen in dem Stadtstaat zusammengepfercht, Landpreise, die in schwindelerregende Höhen schießen – und Hunger, der gestillt werden will.

Im Umreis von Singapur sind lediglich 250 Acres (1 Acre = 4046 m2) bestellbares Farmland übrig, dieses Land produziert nur sieben Prozent der Konsumgüter, welche die Einwohner Singapurs verspeisen. Deshalb hat die Stadt eine der ersten funktionierenden Vertical Farms überhaupt entwickelt. Der Erfinder und Visionär Jack Ing hat sie passernderweise Sky Greens getauft. Bis zu vier Etagen hoch, mit hohen Glasfronten und mit einer Art bepflanzter Hochbeet versehen – so präsentiert sich das Gemüse der kommerzielle Stadt-Farm. Es wachsen Salate,

High-Tech Farming

Im Innern der Glaskomplexe rotieren die Beete in Slow Motion: Auf dem Boden sind nährstoffangereicherte Wasserbecken, die die Setzlinge tränken, weiter oben bekommen sie das nötige Sonnenlicht. Die Rotation erzeugt ein mit Gravitationskraft angetriebenes Wasserrad – eine jahrhundertealte Technologie mit einem modernen Touch. Deshalb verbraucht das gesamte System auch nur ein Minimum an Energie. Kostenpunkt pro Gemüse-Tower: Drei Dollar.

Wie sieht die Agrar-Zukunft aus? Gemäß Agrarforscher wie Dickson Despommier (Colombia University New York) werden in Zukunft Dutzende Felder übereinandergestapelt.

Das Ziel: Senkrechter Landbau, keine Traktoren, wenig Sonnenlicht. Das soll reichere Ernten garantieren. Ideen sind Reis auf dem Laufband, Hühner im Hochhaus, Weizen unter LED-Licht.

Wie gesund ist das Gemüse?

Das System von Mutter Natur ist sein Jahrtausenden ausgetüftelt. Ist Gemüse, dass unter kontrollierten Bedingungen und mithilfe von künstlichen Lichtquellen oder Boden-Substraten genauso vitaminhaltig und gesund wie Freiland-Gemüse? Das ist zwar nicht unmöglich, aber eher unwahrscheinlich: Natürlich Wetterbedingungen wie UV-Licht, Kälte- oder Hitzereize und Abwehr gegen Schädlinge sorgen für Abwehrstoffe in den Pflanzen, die wiederum uns Menschen zu Gute kommen: UV-Schutzstoffe, Antioxidantien etc. fallen zu hohen Teilen weg bei der Hochhaus-Züchtung. Ein klarer Nachteil.

Wirtschaftlichkeit garantiert?

Auch Investoren sind auf die Idee aufmerksam geworden. Goldman Sachs investerte 39 Millionen Dollar in ein Projekt, bei dem die weltweit größte vertikale Farm in einem Stahlwerk entsteht.

Auch gesundheitliche Vorteile sollen die urban farming-Setzlinge haben: Gezielt werden sie mit Nährstoffen versorgt, Pestizide müssen nicht eingesetzt werden. „Bio“ ist das trotzdem nicht – hält zumindest der emerierte Botanikprofessor Christian Körner von der Universität Basel dagegen: „Gesundes, nachhaltiges Pflanzenleben findet in Interaktion mit einem lebendigen Boden statt“, sagt er.

Die Beweggründe der Investoren, bei der High-Tech Landwirtschaft mitzumachen, sind vielfältig: Bis zu 30 mal kann man die bebauten Flächen ernten, möglich wirds dank LED-Beleuchtung und Aeroponik-Anbau. Dieser ermöglicht es, dass die Wurzeln der Pflanzen durch ein Aerosol aus Wasser und Nährstoffen benetzt werden. So soll die Anbauzeit halbiert werden: Anstelle von 30 bis 40 Tagen ist Spinat auf der vertikalen Farm bereits nach 12 bis 16 Tagen pflückbar.

Produktiv ja – aber der richtige Weg?

Produktiv ist das System auf jeden Fall: Sky Greens produziert ist zehnmal mehr Ertrag als dieselbe Menge konventionelles Land, es verbraucht deutlich weniger Ressourcen und Arbeitskräfte. Zudem fallen gerade in einer Stadt wie Singapur, die mehr als 90 der verbrauchten Nahrung importiert, viel geringere Transportkosten an.

Doch kaufen die Menschen Grünzeug, das aus dem Labor kommt? Singapurs Jack Ing sagt, dass seine frischen Salatblätter „viel besser schmecken, als das importierte Grünzeug. Es punktet mit Frische, weil es am selben Tag geerntet und verzehrt werden kann.“

Körner ist dem System gegenüber skeptischer: „Es ist symbolisch für unsere Gesellschaft, die Autosalons und Industrieflachbauten auf bestem Ackerland erlaubt und dann an Betonwänden Spinat züchten möchte“, sagt er. Ökologisch habe das keinen Wert. “Ich bin nicht gegen Urban Farming, aber von der Natur entkoppelte Hightech-Systeme sind überflüssig, solange es noch andere Freiräume in der Stadt gibt.“

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