Ernährungstrends und ihre Folgen

Neue Quasireligion? Essen als Selbstdefinition

20. März 2016 von

„Der individuelle Ernährungsstil wird gnadenlos überhöht“, meint der Mediziner Thomas Ellrott. Spiegel Online hat mit ihm über aktuelle Ernährungsttrends und deren Ursachen gesprochen.

Von vegetarisch, über vegan, glutenfrei, high-carb bis low-carb — aktuell tut sich viel beim Thema Ernährung. Diese Entwicklung verschiedener Ernährungsstile gehe vor allem mit dem Trend zur Individualisierung einher, meint Thomas Ellrott gegenüber Spiegel Online.

Ellrott ist Leiter des Instituts für Ernährungspsychologie an der Universität Göttingen und steht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung in Niedersachsen vor.

Vegetarisch oder vegan Essen ist Trend

Derzeit seien vor allem extreme Ernährungsformen zu beobachten, so Ellrott. Am meisten getwittert werde derzeit über Vegetarismus und vor allem Veganismus. Daneben liegen aber auch Paleo und Kobe-Rind, also extrem hochwertiges Fleisch, weit vorn. „Und die gefühlte Laktose- oder Gluten-Unverträglichkeit gehört ebenfalls zu den Hotspots,“ sagt Ellrott. Und meint: Immer mehr Menschen verzichten der Gesundheit zuliebe auf Laktose oder Gluten, ohne eine Diagnose für eine Unverträglichkeit zu haben.

Auch wenn Entscheidung für einen bestimmten Ernährungsstil bei vielen Menschen gesundheitliche oder ethische Gründe — wie das Tierwohl oder Nachhaltigkeit — hat, „geht es jedoch immer häufiger um Selbstinszenierung und Zugehörigkeit,“ meint Ellrott.

Bekennt man sich zu einem Ernährungsstil, dann gingen damit bestimmte Konnotationen einher. Beim Vegetarismus und Veganismus seien es: „Selbstdisziplin, Engagement, Rücksichtnahme, Tierschutz, vielleicht auch Klimaschutz, Verantwortung, also etwas frech ausgedrückt: ein Besser-Menschentum,“ so Ellrott.

Auf der Suche nach der eigenen Identität

Die Suche nach der eigenen Identität führt immer mehr Menschen zu bestimmten Ernährungsstilen, über die sie sich definieren und einer bestimmten Gruppe zuordnen können, meint Ellrott.

„Wir leben in einer Welt, die schwer überschaubar ist. Gleichzeitig erleben wir einen Verlust von tradierten Ordnungssystemen wie Religion und Familie. Wir sind also auf der Suche nach Identität und nach Sinn.“

Was und wie viel wir essen, trage heute stark zur Identitäts- und Sinnstiftung bei, so Ellrott. Ein Grund dafür sei, dass die eigene Ernährung leicht änderbar ist. Selbst mit einem beschränkten Budget.

Müssen Fleischesser bekehrt werden?

Menschen, die sich heute nicht gemäß aktueller Trends ernähren, erfahren teilweise Ähnliches, wie zu Zeiten der Religionsdiskussionen des Mittelalters, meint Ellrott. „Für die christlichen Missionare waren die Heiden die schlechteren Menschen. Die mussten bekehrt werden. Das erleben Leute, die heute noch Fleisch essen, teilweise auch.“

Der individuelle Ernährungsstil werde gnadenlos überhöht, so Ellrott. „Je mehr man das zum eigentlichen Sinn des Lebens macht, umso mehr idealisiert man es auch als Wert, das kann dann zur Quasireligion werden.“

Ellrotts Fazit: „Vegetarismus oder Veganismus sind ja per se nicht schlecht, aber manche Anhänger suchen vor allem eine Ordnungsstruktur und finden sie in einem Essverhalten, das ihnen plötzlich Sinn und Halt gibt. Und wem die individuelle Entscheidung nicht reicht, der wird zum Missionar und verurteilt andere.“